Dynamik? Artikulation? Was ist das?
Ich stelle immer wieder mit Erstaunen fest, dass mich mit zunehmendem Alter und zunehmender musikalischer Erfahrung Dilettantismus in der Musik - ganz speziell im Gesang - ungeheuer stört. Dilettantismus äußert sich dadurch, dass PROFIS sich wie selbstverständlich an Werke heranwagen, die sie inhaltlich wie auch technisch und musikalisch gar nicht ausfüllen können. Das Ergebnis ist in der Regel ein Vortrag „zum Abgewöhnen“.
Ganz am Anfang meines sängerischen Werdegangs, in der Zeit, in der ich meine Stimme erst entdeckte, war ich hauptsächlich mit dem Ton, dem Klang, der Höhe und der Tiefe beschäftigt. Die Musik, Färbungen, Stimmungen und Interpretation kamen erst an zweiter Stelle, wenn überhaupt... Meine Beobachtung, dass Sänger, die ich damals gerne und viel gehört hatte, es offensichtlich ebenso getan hatten, kam mir wie eine Bestätigung vor. Sie waren ebenfalls hauptsächlich mit ihren Tönen beschäftigt, wobei die Musik auf der Strecke blieb - auch wenn immer das Gegenteil behauptet wurde! Die Sängerinnen und Sänger selbst haben betont, wie wichtig Genauigkeit und Interpretation für die Musik sei - ihre Töne sprachen aber eine andere Sprache...
Die ersten Stücke, die ich selbst gesungen hatte, waren die sogenannten „Arie antiche“ - die Lieder und Arien alter Meister aus der Sammlung des Alessandro Parisotti. Danach kamen die leichteren Schubert-, Schumann- und Brahms-Lieder sowie einige Mozart-Arien. Damals waren das für mich alles neue Dinge. Und gleich von Anfang an brachte man mir bei, dass es kein Problem sei Dynamik- und Artikulationszeichen in den Noten nicht zu beachten - sie zu umgehen, einfach zu ignorieren. Alles was zu schwer schien, wurde „leicht gemacht“. Gleichzeitig wurde ich aber im Klavierunterricht strengstens angehalten ALLE Anweisungen des Komponisten zu beachten und sorgfältig auszuführen. Das verwirrt mich. Den Ausweg aus dieser Zwickmühle schafften aber die „Vorbilder aus der Dose“ - all die Helden der Plattenindustrie der späten 60er, 70er und den frühen 80er Jahren. Namentlich: Fischer-Dieskau, Schwarzkopf, Ludwig, Prey, Matthis oder auch eine Tebaldi, Callas, ein del Monaco, Corelli und viele andere. All diese Sänger, so nahm ich wahr, haben vom Notentext nur Tonlänge und Tonhöhe abgenommen - und manchmal nicht einmal das. Dynamik und Artikulation waren eine Frage der freien Auslegung, so schien es mir. Und als junger und angehender Musiker konnte ich nur eine Schlussfolgerung aus der ganzen Sache ziehen: Was in der Instrumentalmusik ein Muss war, gilt für die Vokalmusik nicht! Damit konnte ich ein paar Jahren sorglos singend leben.
Es tauchten ja auch immer mehr die These stützende Beispiele auf, und ich fing sogar an, einige Töne nicht mehr zu singen, sondern zu sprechen, zu deklamieren oder zu schreien - zu interpretieren halt, dachte ich. Denn das taten die Großen auch! Erst zehn Jahre später begann das mühsam erbaute „Schloss“ zu wackeln. Ich erinnere mich noch ganz genau an mein „Aha-Erlebnis“...
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"SO hat die Arie einen ganz anderen Charakter!" sagte meine Pianistin Anna völlig überrascht. "Es klingt ganz anders, als man es gewohnt ist!"