Kunst – an und mit…

Prolog – Eine Bad-Time-Story

Herr Müller lebt schon seit geraumer Zeit in seiner Wohnung, und zwar nur in seiner Wohnung. Er geht nicht mehr raus, sondern er verbringt jede Minute des Tages in seiner Wohnung und nur dort. Er öffnet auch Türen oder Fenster nicht, denn die Außenluft ist sein Feind. Da draußen lauert sein Feind, dieses schreckliche Virus. Er befällt die Atemwege. Er tötet den Menschen. Herr Müller wollte sich disem Virus nicht aussetzen. Also sperrte er sich in seine Wohnung ein und dichtete Türen und Fenster ab, um bloß keine Luft von außen hineinströmen zu lassen.

Herr Müller schaut immer ganz traurig aus dem Fenster. Dort sieht er Menschen. Er sehnt sich nach frischer Luft. Die ist aber voll mit diesen Viren. Die Luft in seiner Wohnung dagegen ist virenfrei nur leider etwas stickig und etwas verbraucht – mit jedem Tag etwas mehr. Herr Müller fühlt sich mit jedem Tag etwas müder und würde am liebsten immer mehr schlafen, wenn er es nur könnte.

Eines Tages setzte sich Herr Müller in seinen schönen, bequemen Ohrensessel und schaute, wie gewohnt, sehnsüchtig aus dem Fenster. Er war sehr entspannt und seine Augen fielen langsam zu. Er schlief ganz friedlich ein und wachte nicht mehr auf.

Fünf Tage später fand ihn die Polizei, die seine Tür aufgebrochen hat. Seine Nachbarn, die unter ihm wohnten, haben sie gerufen. Die seit mehreren Tagen anhaltende laute Stille aus der Wohnung von Herrn Müller kam ihnen sehr verdächtig vor.

Das Hauptstück – Ein Trauerspiel

Ein Jahrestag naht. Es ist ein fragwürdiger Jahrestag. Der 16. März 2021 ist der Jahrestag des ersten Corona-Lockdowns in Deutschland. Das alleine wäre noch kein triftiger Grund zu gedenken und noch weniger zu feiern. Die Tatsache, dass seit diesem Tag das gesamte Kunstleben Deutschlands, Europas, man könnte sogar sagen der Welt in ein künstliches Koma versetz wurde, gibt uns allerdings einen Grund zu gedenken, innezuhalten und über diese Zeit nachzudenken.

Als ein Jahr zuvor der Lockdown als eine „Alternativlosigkeit“ im „Kampf gegen die COVID19-Pandemie“ über die Bevölkerung gestülpt wurde, rechneten die Menschen mit einem kurzen, vielleicht 2-3 wöchigem Ausnahmezustand in dem sie sich kurz umschauen, orientieren und nach guten Lösungen suchen. Alles, bis auf das Notwendigste im Lande, wurde heruntergefahren und geschlossen. So dachten wir es.

Ein pfiffiger Journalist stellte bei einer Bundespressekonferenz Anfang des Jahres 2021 dem Regierungssprecher eine interessante Frage. Sinngemäß: „Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass sie ein ganzes Land lahmlegt, um Menschenleben zu retten, aber die menschentötende Rüstungsindustrie voller Kraft weiterarbeiten lässt?“ Die ausweichende Antwort sowie das verständnislose und angewiderte Gesicht des Regierungssprechers kann man sich vorstellen.

Nach dem 16. März 2020, im Jahr des ersten Lockdowns, waren die Straßen von heute auf morgen recht leer gefegt. Die gesamte Bevölkerung schaute aus einer Schockstarre heraus Richtung Berlin, Richtung Kanzleramt. In allen Nachrichtensendungen wurden „Horrorzahlen“ präsentiert, gespickt und garniert mit Horrorszenarien und Durchhalteparolen. Das Volk aber behielt seine Hoffnung.

Seit dem lernten wir Sachen, die wir nie wissen wollten oder sollten. Das ganze Land, wie auch der Rest der Welt absolvierte einen Schnellkurs in Virologie und Statistik. Uns wurde beigebracht was RNA und DNA ist, was exponentielles Wachstum, ein PCR-Test, ein Antigen-Test, eine Inzidenz und der R-Wert (die Reproduktionszahl) ist. Wir erfuhren wie gefährlich das Musizieren und vor allem wie tödlich der Gesang ist, mit all dem ansteckenden Aerosolausstoß.

Man rätselte woher das Virus kam und einigte sich überraschend schnell auf eine Antwort. Wir lernten auch was und vor allem wer in Deutschland systemrelevant ist und wer nicht. Jedem wurde sehr schnell klar, was damit gemeint ist. Man muss schließlich wissen, was und wer entbehrlich ist und wer nicht. Uns Künstlern wurde sehr deutlich gezeigt, auf welcher Seiter der Grenze wir zu stehen haben. Bis heute, nur wenige Tage vor dem fragwürdigen Jahrestag, hat sich daran nichts geändert. Im ersten Lockdown versuchten die meisten Künstler irgendwie die Dürrezeit zu überbrücken und am Ball zu bleiben. Viele nutzten das Internet, um weiter präsent zu bleiben und nicht im „schwarzen Loch“ der Zeit zu versinken.

Nach einer Lockdown-Sommerpause im Jahr 2020 und aufwendiger Umsetzungen unzähliger Hygienekonzepte  kam aus der Politik ein Versprechen, dass es einen Lockdown „in der Form wie im Frühjahr 2020“ nicht mehr geben werde. Dann kam der Herbst, und die Menschen durften erneut lernen: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“. Denn zunächst kam eine light und dann eine not so light Variante des „den-wird-es-nicht-mehr-geben-Lockdowns“. Und während all der Zeit lagen Bildung, Kunst und Unterhaltung (was für eine Selektion) mehr oder weniger auf Eis und harrten besserer Zeiten. Bis jetzt kamen sie nicht, die besseren Zeit. Die Inzidenz stieg und viel, die Sterbezahlen ebenfalls, nur die „nicht relevante Betriebe“ bleiben hinter Schloss und Riegel des Verbots von Publikumsverkehr.

Mittlerweile sind wir in zweiter Spielzeit des Theaterbetriebs in der Pandemie. Zahllose Cassandras ziehen durch die Medienlandschaft und drohen kräftig mit einer dritten Welle, noch eher die zweite vorbei ist. Experten treten scheinbar in einen Wettstreit gegeneinander, wer wohl die düsterste Prognose abgibt. Und die Gewinner zeichnen sich schon klar ab. Sie versprechen uns eine noch längere kunstfreie Zeit. Man muss aber feststellen, dass nicht jede Unterhaltung in Koma liegt. Alles, was internettauglich ist – ist putzmunter. Dem großen Rest aber, geht es eher schlecht als Recht.

Man muss trotz allem unterscheiden. Die staatlich subventionierten Theater sind über den Lockdown nicht glücklich, sie werde es aber überleben. Was mit Kleinkunstbühnen und selbstständigen Künstlern passiert, ist ungewiss. Ein Jahr ist eine lange Zeit, wenn man nicht arbeiten kann bzw. darf. Nicht viele haben ein finanzielles Polster für ein ganzes Jahr und durch das „Wirtschaftskoma“, gibt es keine anderen Möglichkeiten Geld zu verdienen. Nach dem Lockdown, wenn der Weckruf durch die Kunstwelt erklingen wird, wird man sehen, wer nicht mehr aufsteht, sondern im seinem Ohrensessel sitzen bleibt. Das ist aber normal. Alles was lebt, muss irgendwann mal sterben, nicht wahr?

Die Frage ist nur, wie viele Opfer eine Gesellschaft auf diesem Gebiet in Kauf nehmen möchte. Schließlich hat alles einen Preis. Nicht wundern, Opfer und Preis sind nur zwei Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache. „Preis“ klingt rational und „Opfer“ emotional, es geht aber nur um das Eine: Auf einer Seite stehen Gewinne auf der anderen Seite stehen Verluste. In diesem konkreten Fall ist der Preis recht hoch, das Opfer vielfältig. Schäden entstehen gegenwärtig und sie werden bis weit in die Zukunft reichen, ihre Dimension wird erst in Jahren wirklich sichtbar werden.

Die gegenwärtigen Schäden sind offensichtlich. Museen, größere und kleinere Theater, Konzertsäle, aber auch viele Musikschulen und privaten Vokal- und Instrumentallehrer, sowie die vielen Laienensembles (Chöre, Instrumentalensembles, etc.) werden prinzipiell und wahllos geopfert. All diese Einrichtungen tragen größere und kleinere Schäden davon und das Land nimmt deren Schäden in Kauf. Viele dieser Ensembles, Betriebe, Fachleute, Organisationen werden als solche diese Zeit nicht überleben. Was wirklich übrig bleibt, sehen wir, wenn das Licht wieder angeht und die Überlebenden die Scherben auffegen dürfen.

Unter den sogenannten „Verschwörungstheoretikern“ geht schon lange das Leitmotiv des „Great Reset“ um, der kommen werde. In Künstlerkreisen weiß man: die Kunst wurde schon „resettet“, zumindest in Deutschland, vermutlich auch weltweit. Die in vielen Jahrzenten mühsamer Arbeit aufgebaute Kunst-Landschaft in Nachkriegs-Deutschland wird eingerissen und platt gemacht. So platt wie man die Infektionskurve im Winter 2020/21 gerne gehabt hätte und es nicht hinbekommen hat.

Die noch viel größeren Schäden sind jedoch die Zukünftigen. Die jetzige Pandemie wird schon längst vergessen sein, aber die Folgen des weltweiten Stillstands, und besonders des deutschen Lockdowns, werden noch lange spürbar sein. Nicht nur in der Kunst. Die junge Generation, die heutigen Kinder und Heranwachsenden, werden eine wichtige Lektion lernen: Wer systemrelevant ist und wer nicht. Nur wenige werden einen scheinbar „unwichtigen“ Beruf ergreifen, wie z.B. einen Künstlerberuf oder einen anderen „unwichtigen“ Beruf. Niemand möchte als erster auf der Abschussliste stehen, wenn wieder mal eine Pandemie oder Was-auch-immer kommt, und der Todeshauch eines Lockdowns über das Land weht.

Das Preis-Leistungs-Verhältnis, so zynisch diese Bezeichnung auch klingen mag, wird man erst erfahren, wenn die Schlussrechnung aufgemacht wird. Bis dahin stirbt jeder, dessen Zeit gekommen ist. Geduldig hofft der Überlebende.

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