Der nackte Hofnarr

Ein Pasticcio in drei Szenen

Szene I

Ich war 13 Jahre alt, als meine Eltern sich entschieden, mein Kinderzimmer durch ein Jugendzimmer zu ersetzen. Ich habe mich sehr gefreut, denn so wurde ich mein Gitterbettchen los. Ich hasste es! Nie schaffte ich es nachts rechtzeitig daraus, wenn ich musste.

Eines Tages fuhren meine Eltern und ich gemeinsam zu Ikea und suchten neben einem schönen Bett auch eine Kommode mit fünf Schubladen aus. Sie war aus hellem Holz und ich mochte sie sehr. Kurz nach meinem 15. Geburtstag habe ich sie schwarz gestrichen. So gefiel sie mir in dem Alter noch viel besser. Sie war sehr wichtig für mich, denn neben vielen Kleinigkeiten habe ich in der vorletzten Schublade auch meine Tagebücher aufbewahrt. In ihnen habe ich meine intimsten Gedanken und Wünsche festgehalten.

Vor zwei Jahren habe ich in einem Moment der Wut diese schwarze Kommode mit einem Stuhl zerschlagen. Das tat mir im nächsten Moment sehr leid, aber da war es schon passiert. Das einzige, was ganz blieb, war die vorletzte Schublade. Ich habe mich entschieden, sie auf jeden Fall in meiner Nähe zu behalten.

Kurz darauf lernte ich einen Antiquitätenhändler kennen. Ich erzählte ihm, was passiert sei und er hatte eine Idee. Er sagte, er hätte eine Kommode, die passen könne. Er sagte, er kenne sich mit Antiquitäten nicht besonders gut aus, er verkaufe sie nur, aber die, die etwas davon verstehen sagten, es sei eine Biedermeier-Kommode. Das einzige, was man an ihr aussetzen konnte, war eine fehlende Schublade. Die Schublade meiner Kommode könne die fehlende Schublade dieser Kommode sicherlich ersetzen.

Zwei Tage später bekam ich die Biedermeier-Kommode geliefert. Sie war in etwa so groß wie meine alte schwarze Kommode. Die fehlende Schublade war die unterste der fünf Schubladen. Ich versuchte, meine schwarze in die Öffnung zu schieben, sie ließ sich aber nicht ganz hineinschieben. Mit einem kräftigen Schlag war sie dann doch vollständig in der Kommode versenkt. Das war's! Sie ging nicht mehr auf! ... Aber sie war da, in einer Kommode in meinem Wohnzimmer. Immer, wenn ich Besuch bekam, erlebte und hörte ich das gleiche: Die Kommode sieht so toll aus. Aber diese schwarze Schublade – naja - also die harmoniert nicht so ganz. Begleitet waren die Worte stets von einem entsprechenden Gesichtsausdruck.

Ich habe das alles nicht verstanden und tue es immer noch nicht. Ich nehme die Kommode kaum wahr. Ich sehe nur meine schwarze Schublade. Die gehört zu meinem Leben, zu meiner Vergangenheit, wahrscheinlich auch zu meiner Zukunft. Die Kommode ist mir gleich!

Meine Tagebücher bewahre ich jetzt in einem Karton unter meinem Bett auf ...

Szene II

Ich hatte in der vergangenen Woche, im Orchestergraben vor dem Orchester stehend, eine Idee. Während die Lucia vor sich hin delirierte, überlegte ich, wie es wäre, wenn man in dieser Arie das Orchester umschreiben würde. In der jetzigen Fassung unterstreicht es – wie in finde - den Wahn der Lucia nicht überzeugend.

Man sollte die Solo-Flöte durch Theremin ersetzten. Und die Streicher klingen mir auch zu nüchtern, man sollte sie vollständig durch ein Flötenensemble ersetzen. Statt 14 erste und 12 zweite Geigen bräuchte es insgesamt nur 10 Flöten. Das wäre ausreichend, denke ich. Die Flöten wären laut genug. Man müsste ausprobieren, wie viele Alt- und wie viele Bass-Flöten dazu gut klingen würden. Zur Unterstützung der Tiefen könnte man einen E-Bass nehmen und die Holz- und Blechbläser durch ein paar Keyboards ersetzen. Jawohl! Das wäre wahnsinnig genug! Hätte Donizetti Keyboards und E-Bass gehabt, hätte er es auch so geschrieben. Ich bin mir sicher! Der Applaus, der auf Lucias Arie folgte, riss mich aus meinen Gedanken.

An dem Abend fasste ich den Entschluss, meine Idee meinen Kollegen und dem Intendanten mitzuteilen. Ich war mir sicher, sie wären einverstanden und ich würde bei der nächsten Lucia-Produktion MEINE Bearbeitung der Arie dirigieren. Schließlich bin ich der GMD am Haus. Die kommenden Tage verbrachte ich damit, alles in Bewegung zu setzen, um meine Vorstellungen umsetzen zu können. Doch alles vergebens! Die Kollegen und Musiker schmunzelten nur und der Intendant fragte nur verwundert, wie ich dazu käme und ob bei mir alles in Ordnung sei.

Ich verstehe das nicht! Wieso ist das ein Problem? Wieso darf die Regie so etwas und derlei sehr viel mehr, die Musik aber nicht?

Szene III

Ein Samstag nach 20.00 Uhr. Ich komme vom Wocheneinkauf nach Hause. Der Fernseher ist eingeschaltet und ich vernehme die Ouvertüre von Wagners Tannhäuser. Während sie läuft, räume ich meine Einkäufe aus. Sie ist lang genug dafür. Und dann höre ich die ersten Stimmen. Ich schmiere noch meine Brotscheibe zu Ende und gehe auf mein Sofa direkt vor dem Fernseher. Ich werfe einen kurzen Blick auf den Fernseher und die laufende Tannhäuser-Vorstellung und mich trifft der Schlag: Tannhäuser ist als Clown verkleidet, die Venus ist eine attraktive Blondine im Kostüm einer Akrobatin, vielleicht einer Schlangenfrau, das alles in der Szenerie eines Zirkus. Ein kurzer Blick auf den Programmtext bringt Aufklärung: Der Tannhäuser ist eine Produktion aus Bayreuth diesen Jahres. A-ha! Alles klar!

Mein erster Gedanke war: Die Verantwortlichen des grünen Hügels sollten diese Kostüme tragen, um sich stets daran zu erinnern, welche Rolle sie in den Werken Wagners spielen.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin wahrlich kein Wagner-Anhänger und wenn es ihn und seine Musik nicht gäbe, Ich wäre der Letzte, der etwas vermisst. Ich finde es nur mindestens anmaßend, um nicht zu sagen dumm, sich auf dem Rücken des Werkschöpfers, der sich nicht mehr wehren kann, so zu profilieren, wie es die Regisseure heutzutage tun!

Ich kann mir kaum vorstellen, dass Wagner es gut geheißen hätte, wenn irgendein Dahergelaufener SEIN Werk so verhunzt. Schließlich ist der Tannhäuser durch und durch Wagners Werk, von der Auswahl der Vorlage, über die Schaffung des Librettos bis hin zur Komposition des Werkes. Ja, sogar die Regieanweisungen hat der gute Richard Wagner in der Partitur festgehalten. Und das nicht zu knapp!

Wie kommt jemand, der mit großer Wahrscheinlichkeit nie etwas nur annähernd so Großes schreiben konnte, geschweige denn wird, dazu, das Werk eines anderen so zu verunstalten und dann auch noch die Öffentlichkeit damit zu belästigen? Warum schreibt derjenige nicht ein eigenes Werk, mit Clowns und Schlangenfrauen, alles im Zirkus angesiedelt, anstatt diese Pseudo-Geschichte über den Tannhäuser zu stülpen? Als Wagner seinen Tannhäuser schrieb, hatte er eine Idee. Diese schrieb er recht detailliert nieder, weil er sie eben genau so auf der Bühne sehen wollte. Wenn das Publikum eine Karte für Tannhäuser kauft und sich in den Zuschauerraum des Theaters setzt, um den Tannhäuser zu sehen, möchte es wohl genau diese, von Richard Wagner geschriebene Oper hören und auch sehen!

Die Werkschöpfer bestimmen, was der Zuschauer auf der Bühne sieht und hört.

Diese Maxime sollte sich jeder Regisseur, jeder Dramaturg, jeder Intendant, jeder Kostümbildner und jeder Bühnenbildner in die Unterwäsche sticken, damit er sie ja nicht vergisst. Jeder, der diese zu erfüllen nicht willens oder nicht in der Lage ist, sollte sich frei fühlen, sein eigenes Werk zu schaffen und damit selbst zu bestimmen, was der Zuschauer sehen und hören soll – mit allen Konsequenzen.

Rondo finale

Refrain:

Hirngespinste eines Möchtegernkünstlers, der als Regisseur, Bühnenbildner oder Kostümbildner verkleidet bzw. getarnt ein Theater betreten darf - WILL das Publikum nicht. Es ERTRÄGT sie nur um der Musik (dem Werk) willen.

Strophe I:

So wie ein Musiker die Partitur ehrfürchtig respektiert und manchmal verzweifelt, sehr oft vergeblich versucht, sie detailgenau umzusetzen, so sollten auch Regisseure, Bühnenbildner und Kostümbildner es tun! Anweisungen des Librettisten, des Komponisten und gegebenenfalls des Autors der literarischen Vorlage jeglicher Art können dabei gut behilflich sein. Man muss nur lesen können.

Refrain:

Hirngespinste eines Möchtegernkünstlers, der als Regisseur, Bühnenbildner oder Kostümbildner verkleidet bzw. getarnt ein Theater betreten darf - WILL das Publikum nicht. Es ERTRÄGT sie nur um der Musik (dem Werk) willen.

Strophe II:

Wenn man als Musiker und / oder Regisseur unsicher ist, was zur Werktreue gehört oder nicht, muss man sich nur fragen: Womit haben Librettist und Komponist auf der Bühne gerechnet? Das hängt immer von Epoche und Werk ab. Alles, womit Librettist und Komponist rechnen konnten, gehört zu Werktreue. Alles, womit sie nicht rechnen konnten, tut das nicht! Sich in diese Richtung zu bilden, kann helfen.

Refrain:

Hirngespinste eines Möchtegernkünstlers, der als Regisseur, Bühnenbildner oder Kostümbildner verkleidet bzw. getarnt ein Theater betreten darf - WILL das Publikum nicht. Es ERTRÄGT sie nur um der Musik (dem Werk) willen.

Strophe III:

Die Zeit, in der eine Oper angesiedelt ist, ist einem heutigen Regisseur sehr oft ein Dorn im Auge. Sie ist oft das erste, was verändert wird. Warum? Zahlreiche Opern wurden von Autoren, von dem Zeitpunkt der Entstehung aus gesehen, in der Vergangenheit angesiedelt. Einige anderen behandelten ein zeitgenössisches Thema. Das hatte sicher einen Grund. Nabucco, Aida, Don Carlos beispielsweise waren schon zu Lebzeiten Verdis Themen der Vergangenheit. La Traviata, Le nozze di Figaro oder Carmen zum Beispiel waren dagegen zeitgenössische Sujets. Die Themen, die schon zur Zeit ihrer Entstehung in der Vergangenheit angesiedelt waren, sollten auch in der „Originalzeit“ bleiben. Dort ist ihr Platz. Jene Werke, welche bei der Premiere zeitgenössisch waren, kann man (muss man aber nicht) in unsere Zeit verpflanzen, aber auch nur dann, wenn die Regie mit der Handlung agiert, und nicht gegen sie, wie heute so oft üblich.

Und jetzt singen bitte alle zusammen den Refrain:

Hirngespinste eines Möchtegernkünstlers, der als Regisseur, Bühnenbildner oder Kostümbildner verkleidet bzw. getarnt ein Theater betreten darf - WILL das Publikum nicht. Es ERTRÄGT sie nur um der Musik (dem Werk) willen.

Coda:

Mittlerweile wachsen Generationen von Opernzuschauern heran, die nicht mehr wissen, wie von Librettist und Komponist gewollte Bühnenbilder und Kostüme aussehen, geschweige denn, die originäre Handlung der Opern kennenlernen dürfen. Sie kennen nun noch die von Regisseuren des Regietheaters „vergewaltigte“ Fassung. Das Problem daran ist, dass die Musik, der Text und die Bühnenbilder einer „modernen“ Inszenierung nur noch selten eine Einheit bilden. Das degradiert die Oper als Kunst, macht sie unglaubwürdig als Werk und damit unattraktiv für den Zuschauer. Sind ein paar therapiebedürftige Menschen das wert?

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